Vorwort

Dantes Göttliche Komödie ist eine der dichterischen Grosstaten, welche die Weltliteratur aufzuweisen hat. Vor 600 Jahren entstanden, übt das gewaltige Werk noch heute seinen berückenden Zauber auf den andächtigen Leser aus, ob nun die Schauer des Jenseits, das zunächst den Stoff des Gedichtes bildet, den religiös Empfindenden rütteln, ob die unvergleichliche Gestaltungskraft des Künstlers die Bewunderung des Geniessenden weckt, oder ob die blendende Fülle theologisch-politisch-historischen Wissens und die farben- und figurenreiche Schilderung der damaligen Verhältnisse Italiens und der das Land zerüttenden Kämpfe den Wissenden in Staunen versetzen.

Zweifellos enthält die Göttliche Komödie zahlreiche Stellen, deren stofflicher und poetischer Reiz ohne weiteres seiner Wirkung gewiss ist. Aber wenn schon unmittelbar nach dem Tode des Dichters die Kommentierung des Werkes begann und öffentliche Erklärer angestellt wurden, so leuchtet es ein, dass eine Ausgabe ohne begleitende Anmerkungen eine halbe Arbeit wäre.

Die vorliegende Wiedergabe der Göttliche Komödie ist ein Abdruck der Übersetzung, die der berühmte Danteforscher, Professor Dr. Karl Witte, der Begründer und langjährige Vorsitzende der deutschen Dante-Gesellschaft, herausgegeben hat. Im Jahre 1875 in dritter, vielfach umgearbeiteter Auflage erschienen, ist sie das Werk eines wohl 50jährigen Forschens und Versenkens in die grossartige Dichtung. Die hier wiedergegebenen Erläuterungen des gelehrten Übersetzers ermöglichen das Verständnis der durch ihre Knappheit und Kürze oft dunkle sowie an Beziehungen und Anspielungen unendlich reiche Sprache des Dichters und der zahllosen persönlichen und sachlichen Anführungen. Die vorliegende Ausgabe besitzt daher ihren bleibenden Wert nicht nur für den lediglich den Genuss in der Dichtung suchenden Leser, sondern auch für den Studierenden und den Nichtfachgelehrten, der das im wesentlichen von der immer weiterstrebenden Forschung Anerkannte hier findet, mögen auch über die Deutung und Bedeutung einzelner Namen, Stellen und Absichten des Dichterwerkes andere Ansichten als die unseres &Uml;bersetzers und Erklärers vorgetragen werden.

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Die Göttliche Komödie schildert zunächst den Zustand der abgeschiedenen Seelen im Jenseits, was im Mittelalter ein beliebtes Thema geistlicher Schauspiele war. Die drei Reiche der jenseitigen Welt, die Hölle, das Fegefeuer und den Himmel, bevölkert Dante mit Gestalten aus dem Altertum und der antiken Mythologie, dem mittelalterlichen Sagenkreise und dem Volksglauben, dem Alten und dem Neuen Testament, der Heiligengeschichte, nicht zum wenigsten aber aus der ihn unmittelbar berührenden Zeitgeschichte. Die Platzanweisung, die er den einzelnen Personen zuteil werden lässt, gibt dem Dichter die Möglichkeit einer alles überragenden Kritik, die nicht nur Freunde und Gegner richtet oder belohnt, sonder auch über politische Anschauungen, wissenschaftliche Probleme, philosophische Streitfragen und die tiefgründigsten theologischen Untersuchungen ein Urteil findet. Dabei fällt dem modernen Leser am meisten einerseits die Leidenschaft des ehrlichen Hasses gegen die Widersacher und anderseits die Lauterkeit der Moral auf, die den Dichter auszeichnen. Vor allem aber steht Dante auf dem Boden der strengen Katholizität; der Reinheit und Grösse der katholischen Kirche gilt sein frommes Sorgen, und wenn er die der Simonie und anderer Verbrechen schuldigen Kirchenfürsten, seien sie noch so hochgestellt, in der Hölle büssen lässt, so kommt darin sein Kummer über die Vergewaltigung der katholischen Kirche zu ergreifendem Ausdruck.

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Dr. Friedrich Ramhorst


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